Wenn die Wut zu einem kleinen festen Feuerball im Bauch wird – 180° Meer

Mit 180° Meer hat Sarah Kuttner ein manchmal schmerzhaftes Buch über Wut, das Verlorensein und irgendwie auch über Familie geschrieben.

„180° Meer“ ist ein ziemlich schonungsloses Buch, das mich auf knapp 270 Seiten einiges an Nerven gekostet hat. Bereits den ersten Roman von Sarah Kuttner (ja – genau die ehemalige Viva- und MTV-Moderatorin), „Mängelexemplar“, fand ich sehr lesenswert.

Passenderweise habe ich „180° Meer“, das 2015 erschien, für 3 Euro auf dem Wühltisch einer großen Buchkette als Mängelexemplar gekauft.

In 180° Meer (Fischer Verlag) geht es um Jule, die eine relativ beschissene Kindheit hatte – Der Vater verließ die Familie schon früh und konnte mit seiner verunsicherten Tochter nichts anfangen, ihre Mutter ist depressiv und dauerhaft selbstmordgefährdet. Deshalb war es an Jule sich um Mutter und Bruder zu kümmern und die Familie zusammenzuhalten. Diese Erfahrungen haben sich tief eingebrannt und eigentlich findet Jule mit Anfang 30 alles in ihrem Leben scheiße und lebt nur vor sich hin. Jule wird schnell wütend, baut für den Lesenden dauernd unverständlichen Bullshit und fühlt sich nicht nur von ihrer Mutter andauernd angegriffen und genervt.

Ihre Beziehung zu ihrem Freund Tim gibt ihr ein wenig Halt, bröckelt dann aber auch. Also flüchtet Jule aus ihrem Alltag und besucht ihren jüngeren Bruder Jakob in England. Dort wird sie damit konfrontiert, dass ihr ebenfalls in England lebender Vater todkrank ist. Das ist Jule im ersten Moment scheinbar scheiß-egal – zumindest sieht sie das so. Doch dann unternimmt sie einen letzten Versuch, sich ihm anzunähern und sich mit ihrer beschissenen Kindheit auszusöhnen.

Nicht autobiographisch, aber Kuttner schreibt über eigenen Erfahrungen

Wie bereits im ersten Satz beschrieben, ist der Roman relativ schonungslos und die Autorin gibt sich nicht wirklich Mühe uns die Protagonistin Jule sympathisch zu beschreiben. Jule nörgelt, wütet und geht – trotz fester Beziehung – mit ihrem Chef ins Bett bzw. auf den Schreibtisch. Einige dieser Marotten werden im Laufe des Buches von Jule, die als Ich-Erzählerin auftritt, erläutert. Das macht einiges verständlicher, aber nicht weniger leicht zu lesen. Die wütende Jule ist – auch wenn bestimmt jeder dieses plötzlich auftauchende Wut-Gefühl kennt – ganz schön anstrengend.

Das Buch "180 Grad Meer" steht vor einem geöffneten Fenster. Darauf ist ein Sticker der Autorin Sarah Kuttner

Kleiner Einwurf: Genau zu diesem Thema habe ich vor einige Wochen ein Interview in einem meiner Lieblings-Podcasts (Hotel Matze) gehört. Interviewgast war – wie könnte es anders sein – Sarah Kuttner. Ein super spannendes Gespräch, in dem Sarah Kuttner ihren Umgang mit Wut erklärt. Genau dieser Umgang fehlt ihrer Protagonistin Jule in „180° Meer“ wiederum völlig. Nicht umsonst merkt auch ihr Freund Tim an einer Stelle an: „Du bist so wütend. Es ist so schwer mit dir, weil du immer so wütend bist (…)“.

Eigentlich will ich das gar nicht wissen

Puh kein Satz den man hören möchte. Jule beginnt dennoch an einigen Stellen, ihren Gefühlen, die sie jahrelang einfach für gegeben genommen hat, auf den Grund zu gehen. Keine Angst – der Roman beschreibt jetzt nicht den langen Weg durch endlose Therapien bis hin zur Selbstheilung. Eigentlich beschreibt er nur ganz zarte Ansätze, mit denen Jule versucht ihr Leben neu zu ordnen. Diese Beschreibung fand ich unheimlich faszinierend, weil man die Protagonistin eigentlich nur schütteln und dabei schreien möchte: „Kind, geh endlich zum Therapeuten. Verflucht nochmal. So ein verkorkstes Leben kann doch keiner alleine aufdröseln.“ Es ist ein bisschen wie ein Unfall: nicht hingucken wollen, aber dennoch das Gefühl haben hingucken zu müssen. (Das ist jetzt keine Aufforderungen an Unfallstellen langsam zu fahren oder Fotos zu machen).

Unbefriedigendes aber passendes Ende

Kuttners Schreibstil ist – ich habs schon mehrfach gesagt – schonungslos und direkt. Sie lässt ihre Protagonistin Jule erzählen und schafft es dennoch das Buch nicht in einen selbstmitleidigen Monolog einer unglücklichen Hauptfigur zu verwandeln. Ich selbst habe das Buch ziemlich „auf einen Rutsch“ durchgelesen, musste dabei manchmal laut lachen und hätte dann wieder am liebsten geheult. Das Ende der Geschichte lässt einen doch im ersten Moment unbefriedigt zurück, ist aber mit dem Rest des Romans schlüssig, denn der beschreibt eben nur den Anfang eines Prozesses. Nach dem mitteldicken Taschenbuch habe ich dann auch definitiv genug von Jule. Weitere hundert Seiten oder mehr, hätte ich dann doch nicht gepackt.

(Da ich auf dieser Seite einen Podcast verlinkt habe, muss ich wohl dazuschreiben, dass das eventuell Werbung ist. 😉 Auch wenn es ein inhaltlich zum redaktionell erarbeiteten Angebot passender Link ist.)