Ihr kleiner Bruder Tim ist der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Er liebt das Meer und seine Bewohner, genauso sehr wie Paula das tut. Jetzt ist Tim tot. Ertrunken in eben jenem Meer. Und Paula fühlt sich zu Beginn von “Marianengraben”, als wäre sie mit ihm auf den Meeresgrund herabgesunken.
Auf der Suche nach Trost begegnet Paula an einem etwas skurrilen Ort dem Rentner Helmut, der ebenfalls einen Verlust verarbeiten muss. Nach einer spektakulären Flucht durch die nächtliche Stadt, begleitet sie ihn quasi gegen ihren Willen auf einen Roadtrip in den Süden. Klar, das klingt ein bisschen vorhersehbar und ja, neben der ernsten Grundgeschichte in “Marianengraben”, kommt natürlich auch Humor nicht zu knapp.
Im Verlauf des Romans wachsen die Hauptfiguren aneinander und heilen sich am Ende ein Stück weit gegenseitig. Bis dahin führen sie wahnsinnig tiefgründige Gespräche über ihre Geschichte und das Leben und kriechen in einem alten Wohnmobil die Berge hinauf und hinab. Klingt bekannt und ja, das ist es an der ein oder anderen Stelle auch. Aber in dem gerade mal 250 Seiten starken Roman trifft Jasmin Schreiber den richtigen Ton, um eine häufig so – oder so ähnlich – erzählte Geschichte neu zu erzählen.
Paula nervt
Ich folge Schreiber als @lavievagabonde schon seit einiger Zeit auf Twitter. Dort schreibt die Biologin über seltsame Haustiere, chronische Krankheiten und Politisches. Und auf dem Twitterkanal bin ich auch auf ihr Buch aufmerksam geworden. Das nicht-autobiographische Werk erschien 2020 im Eichborn Verlag und wurde von der Kritik gelobt.
Diesem Lob will ich mich an vielen Stellen anschließen. Hauptfigur Paula ist traurig und zwar richtig traurig. Dabei ist sie oftmals nervtötend, unleidlich, aber eben auch sehr lustig und sarkastisch.
Das Buch suhlt sich nicht im absoluten Absturz von Paula, wie es deutsche Literatur und Filme gerne mal tun. Paulas Verarbeitungsprozess geht im Buch steil bergauf, wobei nicht alle Phasen der Trauer durchgespielt werden, denn der Roman steigt nach Tims Tod ein. Was passiert ist, erfahren wir als Leser*innen nur in Flashbacks, wenn Paula sich in bestimmten Momenten an Tim erinnert. Dabei spricht sie in Gedanken direkt zu Tim, was diese Stellen im Buch sehr intensiv macht. Als Leser*in wünscht man Paula, dass ihr Schmerz endlich einfach mal besser wird, gleichzeitig möchte man sie schütteln, damit sie „in die Pötte“ kommt.
Ein renitenter Rentner
Helmut als Paulas ungewollter Begleiter ist anfangs auch nicht gerade ein Sympathieträger – auch das ist natürlich ein Kniff, den wir bereits kennen, der aber auch in „Marianengraben“ gut aufgeht. Der Rentner wirkt etwas verstockt und gibt sowohl Paula als auch den Leser*innen dauernd das Gefühl, als hätte man etwas Offensichtliches nicht direkt verstanden. Das ist durchaus amüsant, wobei Helmuts Geschichte, die er mit sich herumträgt, ähnlich tragisch ist, wie die von Paula. Im Laufe des Romans nähern sich die beiden einander natürlich an und aus einer Zweckgemeinschaft wird eine Art Freundschaft.
Mit von der Partie sind auch zwei tierische Begleiter, Helmuts Hund Judy und das Huhn Lutz, das Paula in den Bergen aufgabelt, als es sich dem Wohnmobil der beiden Protagonist*innen in den Weg stellt. Dass Lutz eigentlich weiblich ist und auch noch ein gebrochenes Bein hat, führt zur ein oder anderen (tragi)-komischen Situation.
Marianengraben konzentriert sich auf Paula und Helmut
„Marianengraben“ ist schön, schmerzhaft und traurig, fällt aber für mich letztendlich trotzdem in die Kategorie „Feel Good“. Wäre „Marianengraben“ ein Film, wäre es wohl ein (sehr) deutsches Roadmovie mit Karoline Herfurth in der Hauptrolle und beispielsweise Dieter Hallervoorden als skurrile Nebenfigur Helmut. Die Ideen und Handlungsstränge sind an einigen Stellen vorhersehbar, trotzdem rührt mich die Geschichte und trifft meinen Humor.
Schreiber lässt ihre beiden Figuren viel erzählen, wobei die Geschichte aus der Sicht von Paula gezeigt wird. Nebenher beschreibt die Autorin aber auch die wunderschönen Plätze, die Paula und Helmut auf ihrer Reise besuchen. Durch die Dolomiten, mit Pausen an Bergseen und im Wald – die Natur spielt zwar eine Nebenrolle, aber eben eine wichtige. Paula und Helmut sind (wenn man Judy und Lutz weglässt) die meiste Zeit des Buches nur zur zweit – andere Figuren kommen nur spärlich vor. Das ist aber völlig ausreichend und sorgt dafür, dass das Buch alles andere als hektisch ist.
Ich habe „Marianengraben“ nicht in einem Rutsch durchlesen können, sondern mir immer „Häppchen“ vorgenommen. Besonders der Einstieg ist hart. Im Laufe des Roadtrips und von Paulas „Prozess“ wird es leichter und der (manchmal auch etwas dunkle) Humor macht „Marianengraben“ besonders.
