Wenn dir nur 100 Worte bleiben – Vox

Jean McClellan spricht kaum. Auch ihrer kleinen Tochter Sonia bleibt meistens stumm. Denn Jean und Sonia sind Frauen. Und in „Vox“, einer dystopischen Vision von Christina Dalcher, dürfen Frauen nicht mehr als 100 Worte am Tag sprechen.

Ein Präsident, der Frauen nur für ein Accessoire hält, eine Gesellschaft, die Männer als Versorger sieht und viele wütende Typen, die Angst haben, dass Frauen ihnen den Job wegnehmen. Klingt bekannt?

Der Roman „Vox“ treibt dieses Szenario auf gruselige Weise auf die Spitze. Frauen dürfen nicht arbeiten, nicht wählen und vor allem auch nicht sprechen. Wer als Frau mehr als 100 Worte am Tag spricht, bekommt über ein mitzählendes Armband Elektroschocks verpasst.

Christina Dalchers Protagonistin Jean ist nun also per Gesetz zum stummen Hausmütterchen für Mann und Kinder geworden. Ihr ältester Sohn findet das gar nicht so schlecht. Milch nachkaufen, Geschirr wegräumen? Nicht sein Job. Klingt erstmal nach bockigem Teenager. Doch hier sitzt das Problem tiefer. In der Schule lernen die Kinder, dass Jungs mehr wert sind und Mädchen lernen vor allem eines: still sein. Natürlich in geschlechter-getrennten Schulen. Das alles hat die puritanisch angehauchte, christlich-fundamentale Bewegung der „Reinen“ so festgelegt als sie an die Macht kam.

Das Gegenteil von Feminismus

Jean, die vorher erfolgreich als Wissenschaftlerin tätig war, treiben die Umstände fast in die Verzweiflung. Besonders der Gedanke, dass ihre kleine Tochter niemals richtig sprechen und selbständig denken lernen wird, macht sie wütend.

Vor dem Gesellschaftswandel war Jean mit ihrem Team als Sprachforscherin kurz davor ein wichtiges Serum für Schlaganfall-Patienten mit Sprechstörung zu entwickeln. Aus diesem Grund kommt die neue Regierung eines Tages auf sie zu und fordert ihre Mithilfe: Aber will Jean wirklich ihre Integrität für ein paar Woche mit unbegrenztem Wortschatz aufgeben? Und welchen Plan verfolgt die Regierung?

Buchcover von "Vox" von Christina Dalcher

Aktuell in Zeiten von #Metoo

In „Vox“ wird auf knapp 400 Seiten ein erschreckendes Bild gezeichnet, das einige Anleihen an Diskussionen der letzten Jahre hat. #Metoo, neu erstarkende konservative Idealbilder, ein Präsident der Frauen gerne mal an der „pussy grabbed“ usw. Demgegenüber stehen immer mehr Frauen (und auch Männer), die sich für Gleichberechtigung einsetzen und dem Feminismus neuen Auftrieb geben.

Natürlich ist so eine puritanische Machtübernahme (die religiösen Hardliner stehen in „Vox“ der Regierung eng zur Seite) ein überzeichnetes und hoffentlich nicht mehr realistisches Bild. Dennoch sind all diese Szenarien irgendwie denkbar. Der Rest der Welt schaut hier kopfschüttelnd nach Amerika. Doch eingreifen, wird wohl niemand. Kennen wir doch von den unterschiedlichsten Unglücken der heutigen Zeit.

Zu wenig Raum für die Dystopie

Dalchers Roman (Fischer Verlag) ist ein spannendes Werk, das bei mir irgendwie ein bisschen untergegangen ist. Es wundert mich eigentlich auch, dass das Buch von 2018 – trotz aktueller Thematik – nicht stärker besprochen wurde. Der Roman trägt zwar das Prädikat “Spiegel Bestseller” und im Netz finden sich Rezensionen, doch den richtig großen Schlag hat das Werk nicht gemacht.

Das kann, meiner Meinung nach, verschiedene Gründe haben. „Vox“ hätte eindeutig mehr als 400 Seiten gebraucht. Dalchers Dystopie wird leider nur sehr oberflächlich beschrieben. Hier hätte sie sich gerne an vergleichbaren Werken, wie z. B. die “Tribute von Panem”, orientieren können. So ein Gesellschaftsbild braucht Raum. Damit möchte ich nicht sagen, dass das Buch oder die beschriebenen Szenarien unschlüssig sind. Aber ein bisschen mehr Details hätten gut getan.

Störende Lovestory

Die Handlung nimmt schnell an Fahrt auf – das macht anfangs Spaß. Doch dann driftet Dalcher ab und Jeans Affäre mit einem wirklich klischeehaften Italo-Lover nimmt einfach viel zu viel Raum ein. Der Gesellschaftsroman wird auf einmal um eine Lovestory erweitert, die ich als Leserin so nicht gebraucht hätte.

Umso erstaunlicher, dass die finale Entscheidung zwischen Ehemann und Lover dann doch so brachial, schnell und wirklich leidenschaftslos aufgelöst wird. Es erscheint mir ein wenig, als seien der Autorin ab der zweiten Buchhälfte die Ideen ausgegangen. Super schade, denn die Prämisse bietet so viele Möglichkeiten.

Flache Figuren bei spannender Idee

Den stereotypischen Italo-Lover habe ich ja schon angesprochen. Und auch sonst sind die Figuren leider sehr flach und klischeehaft beschrieben. Heißblütiger italienischer Liebhaber, demgegenüber steht der vermeintlich schwache und langweilige Ehemann, den dann auch das vermeintliche Geheimnis nicht spannender macht. Wobei Patrick McClellan vermutlich noch die ambivalenteste Figur ist.

Die Frauen in diesem Buch sind alle taff, aber auch sehr stereotyp. Jean ist die (ehemalige) Karrierefrau, die natürlich keine „Rabemutter“ ist, sondern das Familienleben auch nicht vernachlässigte. Ihre Kollegin Lin ist die hyper-intelligente Wissenschaftlerin, mit – Überraschung – offensichtlich asiatischen Wurzeln. Sie wird, genau wie Jeans ehemalige beste Freundin, die feministische Aktivistin Jackie, etwas rabiater und burschikoser beschrieben. Und ist deshalb natürlich lesbisch. Die Figuren bilden also eigentlich Teile einer bunten, diversen Gesellschaft ab, die unter dem beschrieben Regime natürlich erst recht zu leiden hat. Doch irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass Dalcher hier sehr flache Klischee-Figuren herangezogen hat, um ihre Ideen auch wirklich ganz besonders deutlich zu machen.

Das ist wirklich schade und hat den Lesespaß ein bisschen gebremst. Ich halte das mal fest: Spannenden Idee, mit Thriller-Elementen, leider zu viel Klischee, zu viel Genrewechsel und zu wenig Buchseiten für die dystopische Ursprungs-Idee.

Buchbewertung des Buches Vox von Christina Dalcher